Wie funktioniert Unschooling – FAQ

Ich beschreibe hier Unschooling wie ich es bis jetzt begriffen habe und so wie wir es anwenden. Es gibt bestimmt Familien, die sich Unschooling anders vorstellen. Ich bin z.B. sehr bücherzentriert. Dennoch glaube ich, dass man eine gute Idee dafür bekommt, wie und warum Unschooling funktioniert. Das wichtigste ist aber: “Unschooling ist das, was man selber draus macht!”

(Bilder, Literatur und Links folgen noch)

Das Wichtigste beim Unschooling ist eigentlich darauf zu achten, dass der Spaß und die Freude nicht verloren geht!

Muss ich meinen Kindern beim Unschooling den ganzen Stoff erklären können und immer tolle Beispiele haben – das kann ich mir nämlich nur für die ersten Jahre vorstellen?

Auf keinen Fall. Die ersten Jahre werden Eltern sich mehr einbringen. Die Rolle der Eltern ist jedoch mehr ein interessierter Ansprechpartner zu sein – zusätzlich sind sie anfangs dafür verantwortlich “Ressourcen” zu beschaffen.

Was sind denn Ressourcen?

Also Computerspiele, Bücher, Filme, Freunde, Bekannte überhaupt die ganze Welt. Anfangs müssen die Eltern diese aktiv beschaffen. Mit der Zeit lernen Kinder selber, wo die Bibliotheken, Treffpunkte und Freunde sind.

Aber können denn Kinder wirklich alles lernen, ohne dass es ihnen jemand erklärt?

Erklärungen sind nicht deswegen verständlich für Menschen weil sie aus dem Munde einer Person kommen.

Erklärungen sind verständlich, weil sie entweder sehr gut sind, oder weil sie sehr nahe am vorhandenen Wissen des Lernenden sind. Für Bücher trifft dies noch mehr zu, als für die gesprochene Erklärung. Mittlerweile gibt es Bücher für jede Altersstufe zu jedem Thema. Bis diese in den Druck gehen arbeiten sehr viele Menschen daran. Heutzutage werden Sachbücher oft multimedial aufbereitet und mit Websites versehen, die sogar einen Austausch mit anderen Interessierten ermöglichen.

Wenn wir uns also heute für Unschooling entscheiden, werden wir dann morgen schon fleißig und begeistert lernen?

Das kommt darauf an, wie sehr die Kinder (und Eltern) sich die Schule schon einleuchten haben lassen. Wenn sie die Idee Schule verinnerlicht haben, wird es eine Phase des Deschooling geben. Beim Deschooling werden die Kinder ohne Grenzen Fernseh schauen, Chips und Junk Food essen, Computer spielen usw. Irgendwann erwacht dann aber der Wille sein Leben aktiv in die Hand zu nehmen wieder. Der Fernseher wird ausgeschalten und die Welt will erobert werden. Je nach Verschulung dauert die Deschooling Phase zwischen 2 Wochen und 1 Monat pro Schuljahr. In dieser Zeit heißt es besonders für Eltern, durchhalten und tolerieren. Die Kinder müssen kapieren, dass sie besonders sind und nicht wegen ihrer Leistungen geliebt werden.

Bedarf es nicht dennoch eines Lehrers um das Wissen aufzubereiten?

Bücher bieten die besten Lehrer, die man sich vorstellen kann – zusätzlich sind diese oft hervorragend aufbereitet. Man kann sich sogar aussuchen, ob man Physik von Physiknobelpreisträger Richard Feynman lernt oder mit dem hervorragenden Kinderbuchautor und Physiker David Macaulay. Man kann sich aber auch mit Luca Novelli der das Leben von Forschern beschreibt und ihre wichtigsten Erkenntnisse gleich mit. Je nach Alter, Geschmack und Vorwissen gibt es für jeden den passenden Lehrer. Man muss nur Lesen können.

Egal welche Wissenschaft man hier nimmt, es besteht Suchtgefahr 🙂

Fehlt da nicht die Tiefe, welche formale Curricula (Lehrpläne) bieten?

Dadurch, dass man seine Interessen verfolgt und immer auf die am besten passenden Ressourcen zurückgreifen kann kommt man viel tiefer, als es in Curricula vorgeschrieben werden kann. Staatliche Curricula müssen ja einen kleinsten gemeinsamen Nenner vorschreiben, während man selber ganz frei ist. Durch diese neu gewonnene Tiefe bauen sich besondere Fähigkeiten des Verstehens und des Weiterdenkens auf – die sogenannten Metastrategien – auch bekannt als “Lernen lernen”. Die Metastrategien machen es dann einfacher schnell in andere Fachgebiete einzusteigen und ein gutes Niveau zu erreichen.

Fehlt dann nicht die Breite, welche formale Curricula (Lehrpläne) bieten?

Beim Unschooling kann es gut sein, dass das eine oder andere Wissensgebiet zu kurz kommt. Es kann sogar sein, dass elementar empfundene Fächer wie Physik in manchen Fällen überhaupt nicht dran kommen. Dennoch lernt man die ganze Zeit, wie man lernt. Also die schon angesprochenen Metastrategien. Sollte man also wirklich einmal in eine Physikprüfung müssen – obwohl man es nie gebraucht hat – so hat man durch gute Metastrategien, also die Fähigkeit gut zu lernen und auch die richtigen und passenden Bücher auszusuchen, eine sehr gute Chance selbst in diesen Tests sehr gut abzuschneiden.

Aber was ist mit den Dingen, die man nicht lernt und die auch in keinen Tests gefordert werden?

Unschooling bedeutet Lernen mit Freude und die eigenen Interessen voranbringen. Das bedeutet gleichzeitig, dass man nicht aufhört zu lernen. Es gibt also keinen Punkt X im Leben, wo es heißt, so jetzt bist Du fertig mit Lernen. Alles was Hänschen bis jetzt gelernt hat wird mit einem Zeugnis abgesegnet, alles was Hand lernt, gilt jetzt nicht mehr.

Unschooler sind Autodidakten und als solche auch über Tests hinaus fähig immer Neues zu lernen – sobald sie sich dafür interessieren und spätestens dann, wenn sie es brauchen.

Ist das nicht alles schrecklich theoretisch – nur Bücher – nie andere Menschen?

Dadurch dass man seinen Interessen folgt und seine Vorkenntnisse optimal einbindet lernt man beim Unschooling schneller und effektiver – zudem fällt der administrative Aufwand weg. Dies lässt einem mehr Raum und vor allem Zeit sich mit anderen zu treffen und gemeinsame Aktivitäten zu planen oder spontan etwas zu unternehmen oder gar mit ihnen zusammen zu lernen.

Das selbständige Lernen ermöglicht aber auch eine Stoffdurchdringung, die es möglich macht sich auf bestimmten Gebieten mit echten Experten auszutauschen. Diese kann man über Unis oder Internet heutzutage schnell finden und einen Kontakt herstellen – vielleicht hat nicht jeder Experte Zeit, aber viele freuen sich über qualifizierte Zuschriften und ehrliches Interesse.

Dennoch sind Bücher an sich auch nicht nur grau. Der Glücksforscher Mihalyi Csikszentmihalyi prägte das Wort Flow – das vielen schon bekannt ist. Er fand in seinen Studien heraus, das eine der am beglückendsten empfundenen Beschäftigungen eben das Bücher-Lesen ist. Vorausgesetzt man hat sich die Bücher selber ausgesucht. Bücher sind für ihn nichts anderes als ein sehr tiefer Austausch mit den Gedanken eines Menschen.

Welche Fächer sind dann überhaupt so interessant, dass sie von Unschoolern gelernt werden?

Dies ist eine komplizierte Frage. Lev Vygotskij hat hier eine gute Theorie entwickelt. Sie besagt, dass der Mensch eine “Zone der nächsten Entwicklung” hat. Jeder Mensch besitzt also Wissen und alles was daran angrenzt kann er als Nächstes verstehen.

Man kann sich das mit einem Menschen in einer Bücherei vorstellen. Nehmen wir an, dieser Mensch mag genau ein Buch, und liest dieses. Dieses ist sein aktuelles Wissen. Die Bücher, die um dieses Buch herum im Regal stehen sind die Zone der nächsten Entwicklung. Wenn er auch diese liest, dehnt sich sein aktuelles Wissen aus und seine “Zone der nächsten Entwicklung” wächst mit. Irgendwann ist er beim nächsten Regal. Dies geht nach allen bisherigen Entwicklungstheoretikern immer so weiter, bis er irgendwann die ganze Bibliothek in seinem aktuellen Wissen hat.

Durch das selbständige Lernen wachsen auch die Metastrategien an. Durch ein Anwachsen dieser Metastrategien wächst zugleich auch die “Zone der nächsten Entwicklung selber”. Das bedeutet, hat jemand erst einmal 5 Bücher aus einem Regal gelesen, so kann er sich nicht nur aus den Büchern in der unmittelbaren Nähe eines aussuchen, sondern auch aus etwas weiter entfernten Büchern.

Ebenfalls wächst durch das Lernen das “Weltwissen” an. Dieses dehnt ebenfalls die “Zone der nächsten Entwicklung”. Andere Bibliotheksregale erklären zwar andere Dinge, aber sie nehmen dennoch Bezug auf dasselbe Weltwissen und auf dieselben Wörter, wie das schon bekannte Wissen.

Ich lese seit 40 Jahren Romane, wieso habe ich nie freiwillig zu einem Physikbuch gegriffen, wenn das so automatisch geschieht?

Das liegt wahrscheinlich daran, dass viele von uns irgendwann gelernt haben, Physik (oder irgendein anderes Fach) sei schwierig. Und das tragische an der Sache ist, dass es niemals irgendjemand in unserem Leben diese Fehlbildung korrigiert hat. Wahrscheinlich kam nie ein Freund vorbei und hat uns von Physik so vorgeschwärmt, oder es uns so gut erklärt, dass unser Selbstbewusstsein über das erste Fehllernen hinauswuchs.

Wenn ich aber alles lernen könnte, was ich wollte, was ist dann mit Talenten?

Die Talentforschung und die Intelligenzforschung ist mittlerweile so weit zu sagen, dass es Talent in dem Sinne, den wir kennen, nicht gibt. Es gibt gute Unterstützung, die Interessen nachhaltig erweckt. Genau darum geht es bei Unschooling.

Bedeutet Unschooling nur praktisches Lernen (learning by doing), oder nur erforschendes Lernen (exploratives Lernen)?

Nein auf keinen Fall. Unschooling bedeutet lernen, so wie es für einen selber gut ist. Da kann es sein, dass der eine Wiederholung-Und-Übung anwendet, der andere sich ans Entdecken hält, der Dritte liest einfach ein Buch nach dem anderen.

Werden alle Fächer auf dieselbe Weise erlernt?

Nein, hier bestimmt man auch wieder selber. Lernt man zum Beispiel gerne das eine durch Wiederholen, kann er etwas anderes durch Erforschen lernen und eine dritte Sache wieder ganz anders. Unschooling bedeutet auch die Suche nach den besten Lerntechniken für einen selber – und deren Weiterentwicklung – die sich mit der eigenen Weiterentwicklung verästelt.

Gibt es beim Unschooling überhaupt noch klassische Fächer?

Die Unterscheidung der klassischen Fächer war willkürlich und wird sich ein Stück weit auflösen. Dennoch ist sie mittlerweile kulturell verankert. Mathematik gehört bei uns mittlerweile zu den Naturwissenschaften und nicht mehr zu den Geisteswissenschaften. Dieser kulturellen Komponente wird man sich nur schwer entziehen können (z.B. Einordnung der Bücher in der Bibliothek) – dennoch wird man sich ein Stück weit über sie erheben können – und die Fächer werden sich mit wachsendem Verständnis auflösen.

Bei Physik kann ich ja die ersten paar Jahre noch mithelfen (Öl und Wasser zusammenschütten usw.), aber was passiert dann?

Beim Unschooling geht es nicht darum ein besserer Lehrer der Kinder zu sein. Es geht darum die Kinder mit der Welt vertraut zu machen, so dass sie auf eigenen Füßen stehen, entdecken und lernen können.

Schulbücher haben doch auch ihre Berechtigung, oder?

Es soll auch Unschooler geben, die Schulbücher benützen. Dennoch werden Schulbücher praktisch nie auf Verständnis hin getestet. Sie haben eine komplett andere Entstehungsgeschichte als Bücher.

Bei ihrer Entstehung stehen folgende Kriterien im Vordergrund:

  • Möglichst kosteneffiziente Lehrplanabdeckung
  • Volle Lehrplanabdeckung
  • Fehlerfreiheit

Lehrpläne ändern sich häufig, somit haben sie eine extrem kurze Halbwertszeit. Und die Fehlerfreiheit geht oft auf Kosten der Einfachheit.

Wenn ein Buch in engen Zeitrahmen an diesen Maßstäben entwickelt wird, so ist es meistens unattraktiv und wird nicht noch zusätzlich an Kindern auf Verständnis getestet – dieses ist ja auch nicht das Ziel.

Welche Rolle spielen Lehrer beim Unschooling?

Beim Unschooling sind Lehrer Ansprechpartner. Manche Unschooler wollen früher über bestimmte Themen diskutieren, manche Unschooler später.

Lehrer kann im Unschooling jeder sein, der ehrliches Interesse am Lernenden hat – man sollte nur von ungebetenen Bewertungen Abstand nehmen und sich mit der Sache ehrlich auseinandersetzen wollen. Und gleichberechtigt mit dem Lernenden.

Aber Fehler in Büchern sind doch schlimm – da lernen Kinder ja falsche Sachen, oder?

Das stimmt insofern der Lerner nicht das Gesamtbild verstehen. Beim Unschooling geht es aber darum, dass man eben versteht was man lernt – nur dann macht es ja auch Freude und ist sinnvoll (im Sinne des Wortes).

Versteht der Lerner das Gesamtbild jedoch, so wird er schnell kleine Fehler (z.B. Jahreszahlen in Geschichte, Formelfehler in Physik) selber korrigieren können. Zudem kommt es, dass der Lerner durch seine Interesse eine Tiefe erreicht, die es ihm zusätzlich leichter macht Fehler zu erkennen, sogar inhaltliche Fehler (z.B. falsche Untersuchungsanordnung), die ihm beim puren sinnlosen Lernen niemals auffallen würden.

Fehler neigen sogar dazu neue Frage aufzuwerfen und sind sogar Teil eines effektiven Lernens – und zusätzlich der Bildung von Medienkompetenz.

Ich höre immer nur Kinder, ich bin schon erwachsen will aber auch Unschooling machen, gibt es eine Altersgrenze?

Nein, jeder kann Unschooling machen. Allerdings gibt es eine Erschwernis. Erwachsene haben jahrzehntelang gelernt, was sie “können”. Dies wirkt wie ein unsichtbarer Zaun auf sie. Das muss man wieder verlernen und davon ausgehen, dass man alles können kann. Und je mehr sie können, desto mehr wird sie interessieren. Das ist die schwierigste Lektion.

Und die Lektionen, dass Fehler dieses Mal wirklich OK sind und dass Vergessen so zum Lernen gehört, wie Ausatmen zum Einatmen gehört.

Diese Phase des Lernens gehört zum Deschooling.

Dann wird Lernen und sich bilden wieder eine von Grund auf schöne Sache, für die wir Menschen gemacht wurden.

Wie definiert man einen erfolgreichen Unschooler?

Da gibt es bestimmt 1000 verschiedene Ideen. Für mich ist es jemand, der in eine Bibliothek geht und sich vor lauter Wissensdurst nicht entscheiden kann in welchem Stockwerk und an welchem Regal er zuerst anfangen soll.